V o r g e s c h i c h t e
Fünf Jahre sind vergangen, seit ein misslungenes Experiment der Mountmarker
die Menschheit an den Abgrund der Existenz brachte. Das gesamte
Eis der Gletscher und Pole ist geschmolzen. Der Meeresspiegel stieg weltweit
sprunghaft um 60 Meter an. Riesige Flutwellen vernichteten die Küstengebiete.
Gleichzeitig entstand eine unüberwindliche Luftschicht in zweitausend
Fuß Höhe, oberhalb der kein Leben möglich war. Nur zehn Prozent der Menschen
haben diese Katastrophe überlebt.
Während sie versuchen, zu überleben, übernehmen skrupellose Politiker
und Militärs das Kommando und streiten um die Machtverhältnisse auf dem
amerikanischen Kontinent. Inmitten dieses Chaos gelingt es dem deutschen
GS und dem ehemaligen Präsidenten Payne, den Staat Riftland aufzubauen.
Dreizehn Jugendlichen unter der Führung des Jungen Ben wurden von einer
unbekannten Macht besondere Fähigkeiten verliehen. Mit der Hilfe dieser
Berührten ist es Riftland gelungen, die Kultur und das Wissen der alten Welt
zu bewahren und sich aus den Streitigkeiten der anderen Staaten herauszuhalten.
Der jungen Joe gelang es bei einer waghalsigen Expedition in die Antarktis,
die tödliche Barriere auszuschalten. Dort erfuhr sie die Wahrheit über die
Ursache der Katastrophe. Dieses Unternehmen war nur Teil eines ausgeklügelten
Plans des Diktators Big Don, der die Menschheit auf seine Weise retten
will. Die Zerstörung der Luftschicht soll das Klima drastisch verändern.
Um die Menschen vor der Vernichtung zu bewahren, nutzt er eine Technik
der Mountmarker und bildet Schutzschirme über den verbliebenen Städten.
Die Technik der Schirme stammt in Wahrheit von den Nthawi, einer außerirdischen
Macht. Sie ermöglicht es ihnen, das Kontinuum ihres Erzfeindes
– der Istari – anzugreifen. An vielen Orten erscheinen plötzlich Lebensformen
aus den unterschiedlichsten Kontinuen, um entweder den Berührten
zu helfen oder ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Ein fehlgeleiteter Berührter wurde zu einem Ritter der Istari. Ihm ist es
gelungen, fast alle Schutzschirme zu zerstören. Dabei nahm er den Tod von
Millionen Menschen in Kauf. Mithilfe von Raven und Ashley, die ebenfalls
nicht von der Erde stammen, gelingt es dem Detective Tom Farmer, den Ritter
zu vernichten. Dabei wird er jedoch so schwer verletzt, dass er nur in
der Heimatwelt der Ntahwi gerettet werden kann. Gleichzeitig wird bei dem
Versuch, die Familie Payne zu beschützen, Ashley betrogen. Ihr schützendes
Zeitfeld tötet die beiden, sowie die zwei Berührten Mia und Sophia.
Die Nthawi übernehmen die Macht in den restlichen Städten und hetzen
die Menschen gegen die Berührten auf. Big Don und GS schließen sich widerwillig
zusammen und fliehen nach Oak Ridge, um von dort aus die Spur
des Schwarzen Fuchs aufzunehmen und gemeinsam gegen die Fremden vorzugehen.
M a c h t l o s
Soeben ist die Nachricht von den Schirmen Newport, Columbus und
Minneapolis eingetroffen. Henderson verkrampft die Hände hinter dem Rücken.
So hat er sich seine Präsidentschaft nicht vorgestellt.
Er blickt aus dem Fenster seines Büros. Der Schirm über Tulsa schimmert
in der spätherbstlichen Sonne. Die Straßen sind leer. Ein Windstoß wirbelt Laub
auf. Nachdem die Bewohner von dem Zusammenbruch der Schirme über den anderen
Städten erfahren haben, sind sie panisch durch die Portale geflüchtet. Die
Einheiten des Protection Squads haben sich aufgelöst und laufen ebenfalls davon,
obwohl es außerhalb der Schutzschirme keinesfalls sicherer ist. Die Menschen
werden dort der Natur ausgeliefert sein, die in den vergangenen Wochen bereits
Tausende das Leben gekostet hat. Die Schirme sollten sie davor schützen. Jetzt
sind sie selbst zu einer lebensgefährlichen Falle geworden.
Henderson beobachtet eine Katze, die unbeeindruckt auf dem Vordach
eines Nebengebäudes liegt. Er schmunzelt. Das Tier macht sich keine Gedanken
darüber, welche Gefahr über ihrem Kopf schwebt.
Er hat keine Informationen darüber, was in den anderen Städten geschehen
ist, nur dass mindestens sieben von dreizehn Schirmen nicht mehr existieren
und alles Leben unter ihnen vernichtet wurde.
Er bekommt keine Verbindung nach Charlotte und Big Don meldet sich
nicht. Wahrscheinlich existiert die Stadt ebenfalls nicht mehr.
Was soll er jetzt machen? Weglaufen hat für Henderson keinen Sinn. Er
sitzt in der Mitte von Tulsa und würde sich hinten anstellen müssen. Niemanden
interessiert es, dass er der Präsident ist.
Er seufzt. War es das für die Menschheit? Würden sie je wieder ein Leben
in Sicherheit führen?
„Du bist noch nicht weg?“, hört Henderson die Stimme seiner Vizepräsidentin
und dreht sich zu ihr um.
„Wohin soll ich gehen?“, fragt er zurück. „Was ist mit dir?“
Die schlichte schwarze Anzughose mit dem weißen Oberteil zeigt ihm,
dass sie ebenfalls nicht vorhat, die Stadt zu verlassen, um den Flüchtenden
in die raue Wildnis Riftlands zu folgen.
„Wir hatten unsere Chance“, winkt Claire ab. „Vielleicht haben wir Glück
und Tulsa bleibt stehen. Dann gehört die Stadt uns.“
„Du könntest den anderen hinterherlaufen und dein Leben retten.“
„Was soll das für ein Leben sein? Das Land wurde durch die Stürme zerstört.
Bald wird wieder das Gesetz des Stärkeren gelten“, sagt sie. „Ich hätte
damit kein Problem, aber lebenswert ist es nicht.“
Der Monitor auf Hendersons Schreibtisch gibt ein akustisches Signal ab.
Eine Nachricht ist eingetroffen. Sofort steuern beide darauf zu.
Er liest die Meldung und lässt sich anschließend resigniert in seinen Sessel
fallen.
Claire seufzt. „Jetzt ist es egal, wo wir uns aufhalten. Wenn diese Wetterfront
uns erreicht, ist es außerhalb der Schirme auch nicht sicherer.“
Henderson schwingt sich aus seinem Sessel. „Möchtest du etwas trinken?“,
fragt er sie. „Ich brauche jetzt was Starkes.“
„Ich nehme das Gleiche wie du.“
Claire kichert belustigt, als Henderson sich umständlich in seinen Chefsessel
setzen will, der jedoch wegrollt und ihn unsanft auf den Boden fallen lässt.
„Ich glaube …“ Er steht schwankend wieder auf, „… das letzte Glas war zu
viel“, nuschelt er.
„Ich habe auch genug“, sagt Claire und stellt ihr halbvolles Glas weg.
„Wenn so die Elite der Menschheit aussieht, geben wir euch keine hundert
Jahre mehr, bis eure Spezies endgültig Geschichte ist.“
Claire und Henderson wirbeln herum und verlieren fast das Gleichgewicht.
Drei identisch aussehende Männer stehen im Raum. Kahlköpfig, mit
Sonnenbrillen und in ihrer dunkelblauen, enganliegenden Kleidung wirken
diese Hünen einschüchternd. Henderson bemüht sich, Haltung zu bewahren.
Vergeblich fummelt er an seiner Krawatte herum.
„Wer seid ihr?“, lallt er und schüttelt den Kopf, um klarer denken zu können.
„Wir nennen uns selbst Nthawi und sollen euch beim Aufräumen helfen“,
sagt der Mittlere.
Henderson runzelt die Stirn. Hat der Mann seinen Mund überhaupt bewegt?
„Ihr benötigt die Schirme, um euch vor den Stürmen und der Hitze zu
schützen. Dabei werden wir euch zur Hand gehen, da ihr offensichtlich die
Kontrolle darüber verloren habt.“
Henderson lässt sich auf seine Couch fallen. Er weiß, dass er viel zu
betrunken ist, um mit den Fremden zu verhandeln. „Übernimm du das“, sagt
er zu Claire. „Wozu habe ich schließlich eine Vizepräsidentin?“
„Was erwartet ihr als Gegenleistung?“, fragt Claire, die sich auf Hendersons
Schreibtisch stützt.
„Miss Durant kommt immer gleich zur Sache“, bemerkt der Fremde süffisant.
„Wir garantieren euch Sicherheit und Wohlstand. Die Technik der
Schirme bleibt dabei allein uns vorbehalten. Um unsere Aufgaben unauffällig
auf diesem Planeten wahrnehmen zu können, werden wir die Firma Me-
C-Net und die Agentur CN-News übernehmen. Euer Mäzen Mr. Jones, hat
bereits einige intelligente Vorbereitungen getroffen, die wir nutzen können.“
Henderson atmet schwer aus. Das klingt nicht nach einem Angebot, sondern
nach Fremdbestimmung.
„Damit können Sie uneingeschränkt Einfluss auf die Bevölkerung nehmen“,
stellt er fest. „Pressefreiheit gäbe es nicht mehr.“
„Uns kümmern eure primitiven Sorgen nicht“, sagt der Mann arrogant.
„Wir werden beim Aufbau einer neuen Infrastruktur, Industrie und Produktion
helfen, ohne dabei eure Welt zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Wir
zeigen euch, wie es geht, und ihr kommt hoffentlich damit zurecht.“
„Oder auch nicht“, meint einer der anderen abfällig. „Hauptsache, ihr
mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten ein.“
„Die da wären?“, fragt Claire.
„Wir werden uns nicht dazu herablassen, euch alles zu erklären. Euer
Verstand würde es doch nicht begreifen.“ Der Mann macht eine Pause und
denkt nach. „Eine Bedingung haben wir allerdings.“
Henderson horcht auf.
„Ihr kümmert euch um die Berührten.“
Claire blickt Henderson an, der nur mit den Schultern zuckt.
„Keine Ahnung, wovon die sprechen“, nuschelt er. „Wenn sie keine Hallullzination
sind, bin ich einverstanden. Ich brauche jetzt eine Runde Schlaf.“
Er lässt sich seitlich auf die Couch fallen.
„Wer sind die Berührten?“, fragt Claire.
„Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Sie sind schuld am Tod von Millionen.
Einen kennt ihr bereits unter dem Kürzel GS.“
Dann drehen sich die drei Männer um und lösen sich im Türrahmen in
Luft auf, als hätten sie nie existiert. Claire blickt aus dem Fenster. Die Oberfläche
der Schirme über Tulsa ist ruhig, die Sterne des nächtlichen Himmels
glitzern durch die schützende Barriere.
Abschied
Roger sitzt im Wagen auf dem Parkplatz der Fall Creek-Wasserfälle und
spielt mit dem Zündschlüssel. Vor ihm erstreckt sich die karge, leblose Landschaft,
die von einer rotbraunen Staubschicht bedeckt ist. Wahrscheinlich
kennzeichnet sie auf der ganzen Erde die Gebiete der ehemaligen Todeszone
oberhalb von zweitausend Fuß. Die Unwetter der vergangenen Wochen haben
den Staub ebenso wenig abtragen können, wie der inzwischen einsetzende
Regen. In den tiefer gelegenen Tälern stehen noch die toten Baumstümpfe
der vormals grünen Wälder.
„Die Paynes haben mehr verdient als diesen ärmlichen Abschied“, sagt er
in die Stille des Wagens.
Es ist erst wenige Tage her, seit er und Raven die sechs Leichen vor dem
Wasserfall gefunden haben. Marian und Stanley Payne, James Burdon und
die beiden Schwestern Sophia und Mia, die vor fünf Jahren mit GS und
Ben aus Florida geflohen sind. Die sechste Leiche gehörte Ashley. Einem
Scatach, der die Form dieser Frau angenommen hat. Sie hat versucht, die
Opfer innerhalb eines Zeitfeldes zu beschützen. Roger hat nicht erfahren,
was schiefgegangen ist.
Laura zieht den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Sie presst die Lippen zusammen
und nickt. Er schaut sie von der Seite an, während sie die trauernden
Freunde der Verstorbenen beobachtet, die mit gesenkten Köpfen zum
Parkplatz zurückkehren. Eisiger Schneeregen fegt über die leblose, rötliche
Ebene, aber die Trauernden scheinen es kaum zu bemerken.
„Sie standen sich wohl sehr nahe“, sagt Laura, als GS mit Ann zum Wagen
geht. GS kann Ann kaum beruhigen.
„Sie haben mit den Paynes nach der Katastrophe zusammen ein Flüchtlingslager
aufgebaut“, bemerkt Roger. „Jessica hat erwähnt, dass sich die
meisten von ihnen dort kennengelernt haben.“
Er wendet den Blick von Laura ab. Eigentlich gehört er nicht hierher. Diese
Berührten sind eine Art Übermenschen, die es sich zur Aufgabe gemacht
haben, die Welt zu retten. Nach den jüngsten Ereignissen ist Roger skeptisch,
ob ihnen das gelingen wird. Die Außerirdischen sind ihnen haushoch überlegen.
Das hat sein Freund Tom deutlich zu spüren bekommen, als er bei dem
Kampf gegen den Ritter der Istari schwer verletzt wurde. Raven sagte, nur
die Mediziner von Nthaw könnten ihn retten. Zusammen mit Liam sind sie
durch einen Teleport verschwunden.
Jessica, Emma und die Rabba Paula nähern sich ihrem Fahrzeug. Er
steigt aus dem Wagen und öffnet der Rabba die hintere Fahrzeugtür. Jessica
und Emma steigen auf der anderen Seite ein. Roger schüttelt den Schnee ab
und schlüpft zurück auf den Fahrersitz.
„Was geschieht mit ihm?“, fragt Laura, als sie Big Don sieht. Er hat den
Toten ebenfalls die letzte Ehre erwiesen. Der Mann steigt in den Wagen, in
dem bereits Ravens Bodyguards Schutz vor dem ungemütlichen Wetter gesucht
haben. Joe kommt den Weg hinauf. Sie windet sich aus den Armen von
Leroy und stellt sich vor Big Dons Wagen. Sie spuckt mit Verachtung gegen
die Scheibe und sagt etwas in seine Richtung. Big Don erwidert ihren Blick
ohne eine Gefühlsregung.
Roger startet den Wagen. „Die mögen sich nicht sonderlich.“
Er sieht, wie Leroy und Anita Joe wegziehen und zu einem anderen
Fahrzeug drängen.
Nacheinander verlässt die Trauergemeinde den Ort und fährt zurück
nach Oak Ridge. Big Don hat ihnen diesen Stützpunkt zur Verfügung gestellt,
da die Berührten in der Nähe von Tulsa nicht mehr sicher waren, was auch
immer das bedeutet.
„Warum sind die Jugendlichen in Gefahr?“, fragt Roger. „Was hat Raven
damit gemeint?“
Er reibt über die Stelle, an der sich Ravens Armband befunden hat, während
er mit der anderen Hand das Steuer hält. Manchmal hat er das Gefühl,
es wäre noch unter seiner Haut.
„Wir sind nicht allein im Universum“, sagt die alte Dame auf der Rückbank.
Für Roger ist sie nach wie vor die Rabba, auch wenn er mittlerweile
erfahren hat, dass ihr richtiger Name Pauline ist. „Die Fremden sind in der
Lage, über Energieportale zwischen den Welten zu reisen“, fährt sie fort. „Sie
benutzen unsere Erde, um ihre Interessen durchzusetzen.“
„Die da wären?“, fragt Laura.
„Das können nur die Außerirdischen sagen.“
„Wie viele mag es von ihnen geben?“, fragt Jessica.
„Raven und dieser Hund waren auf unserer Seite“, bemerkt Emma. „Sie
stammten von verschiedenen Welten. Ashley war ein Scatach, ein Formwandler.
Raven und sie haben uns vor den Istari gewarnt. Das macht schon
vier außerirdische Zivilisationen.“
„Raven hat von Eden gesprochen und der zweite Scatach wurde von jemandem
beauftragt, der die Berührten vernichten sollte“, bemerkt Jessica.
„Wer weiß, ob da nicht noch mehr sind, von denen wir nichts wissen.“
Roger seufzt. „Es ist schon komisch, dass es auf einmal Aliens gibt und
wir nicht wissen, ob wir einen vor uns haben. Raven hätte mir wenigstens ihr
Armband lassen können. Das Ding war richtig cool.“
„Roger, unser Superheld.“ Laura tätschelt ihm die Schulter. „Ohne diese
Fähigkeiten gefällst du mir besser.“
„Aber er hat recht“, sagt Pauline. „Es wäre hilfreich, wenn wir ein Hilfsmittel
hätten, mit dem wir die Fremden erkennen könnten.“
„Und dann? Wir wissen nicht, worin die Gefahr für uns wirklich besteht
und warum sie hinter uns her sind“, sagt Emma.
„Auch können wir nicht sagen, wer uns wohlgesinnt ist“, sagt Pauline.
„Wir wissen zu wenig über die Politik der Aliens.“
Niemand erwidert etwas. Die restlichen zwei Stunden bis zum Ziel verbringen
sie schweigend.
Oak Ridge wurde nach der Katastrophe von den Einwohnern verlassen,
sobald sie bemerkten, dass die Luft kaum atembar war. Sie flohen in tiefer
liegende Gebiete nach Süden. Big Don dagegen wusste, welche Kostbarkeit
hier wartete und hat immer wieder versucht, dieses Gebiet zu annektieren.
Schließlich gelang es ihm mit Stanley Paynes Hilfe. Seine Leute, die den Supercomputer
wieder in Betrieb nahmen, hatte er natürlich schon vorher in
Oak Ridge eingeschleust.
Big Don hat seit der Katastrophe einen Plan verfolgt und versucht, auf
seine Weise die Menschen unter den Energieschirmen der Mountmarker zu
beschützen. Allerdings wusste er nicht, dass er nur eine Figur in einem Plan
fremder Mächte war.
Nach dem Zusammenbruch der meisten Schirme und den verheerenden
Unwettern haben nach letzten Berechnungen weniger als sieben Millionen
Menschen überlebt. Davon hält sich etwa eine Million unter den derzeit noch
stabilen Schirmen von Tulsa, Tuscaloosa, Wichita und Lexington auf. Der
Rest der Menschheit auf diesem Kontinent versucht, in den wenigen Oasen
irgendwie zu überleben.
Für Roger ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Inseln des Lebens
dem menschenfeindlichem Klima zum Opfer fallen werden. GS und Big Don
beäugen sich noch immer argwöhnisch, aber die Situation lässt ihnen keine
Wahl, als jetzt zusammenzuarbeiten.
Nacheinander passiert der Konvoi den Kontrollpunkt, der den Zugang
zu den National Laboratories regelt. Wenig später erreichen sie ihre Unterkünfte.
Roger begleitet Laura zu ihrem Zimmer und küsst sie zärtlich auf die
Wange. Er überlegt kurz, ob er ihr folgen soll, entscheidet sich jedoch dagegen.
Er braucht jetzt Zeit für sich.
In seinem Zimmer zieht er die nassen Klamotten aus und dreht die Heizung
auf. Dann legt er sich auf das Bett. Nachdenklich starrt er die Decke an.
Was soll er jetzt machen? Sein Leben wurde in den letzten Tagen völlig auf
den Kopf gestellt.
„Mein Gott, Tom!“, murmelt er vor sich hin. „Was haben wir nur angestellt?
Warum musstest du unbedingt den Fall aufrollen?“
Sie hätten es einfach bei dem Unfall belassen sollen und nichts wäre passiert.
Liam wäre nie verschwunden und Tom wäre weiterhin in Springfield.
Gemeinsam würden sie ihren Dienst verrichten, sich gegenseitig von ihren
törichten Vorhaben abhalten und die Abende in Bars verbringen, wenn es
Toms väterliche Aufgaben zuließen.
„Lass die hohen Herren doch ihre Spielchen spielen. Was haben wir damit
zu tun?“
Roger schließt die Augen und hält sich die Hände vor das Gesicht, als er
merkt, wie Tränen seine Wangen herunterlaufen. Er vermisst seinen Freund
und Partner. Selbst Aaron, diesen komischen Kauz. Sie haben ihn im Lazarett
zurückgelassen, für einen Transport war er noch zu schwach gewesen.
„Was mache ich hier überhaupt?“, fragt sich Roger erneut und richtet sich auf.
Um auf andere Gedanken zu kommen, beschließt er, eine kalte Dusche
zu nehmen. Das gibt einen klaren Kopf. Er legt die restliche Kleidung ab und
geht ins Bad. Ein stechender Schmerz im Bein erinnert ihn an die noch nicht
vollständig verheilte Verletzung, die er sich in dem Fahrstuhlschacht in Nashville
zugezogen hat.
Erfrischt und mit neuer Energie zieht er die Kleidung an, die alle Mitarbeiter
im Labor tragen: einen eng anliegenden dunkelblauen Overall, der mit
einem Reißverschluss an der Vorderseite geschlossen wird. Roger mag eigentlich
diese Art von Kleidung nicht, aber er muss zugeben, dass sie sich gut
auf der Haut anfühlt und auch bei den winterlichen Temperaturen außerhalb
des Gebäudes angenehm warm hält. Außerdem ist sie wasserabweisend und
widerstandsfähig.
Er betrachtet sein Spiegelbild und schüttelt nachdenklich den Kopf. „Das
bist du nicht, Roger Wheeler. Du hast hier nichts verloren.“
Entschlossen verlässt er sein Zimmer und sucht Laura auf. Er zögert kurz,
bevor er anklopft.
„Komm rein, Roger!“, schallt es von innen.
„Hast du mich erwartet?“, fragt er und betritt den Raum. Ihre einfache
Wohnung gleicht der seinen: Ein langer schmaler Raum ohne Fenster. Ein
Schreibtisch mit Stuhl, ein Bett und eine Küchenzeile gehören zur spartanischen
Einrichtung. Ein Geruch von Desinfektionsmittel steigt ihm in die
Nase und verstärkt den sterilen Eindruck der weißen Wände.
„Wer sollte mich sonst besuchen?“, antwortet sie. „Von den anderen
kenne ich keinen.“
Roger greift nach ihrer Hand und zieht sie zu sich. Laura legt ihre Arme
um ihn und drückt ihren Kopf gegen seine Schulter. Sekundenlang verharren
sie schweigend in dieser Stellung.
„Ich habe eine Entscheidung getroffen“, sagt er schließlich.
Laura löst sich von ihm. „Nur für dich?“
Er grinst. „Ich hoffe sehr, dass du mich begleitest.“
„Erzähl!“
„Ich fühle mich hier nicht wohl.“ Er macht eine ausholende Handbewegung.
„Ich bin ein Polizist und kann nichts mit diesen Präsidenten, Staatsoberhäuptern,
NSA-Chefs oder berühmten Schauspielern anfangen. Die sind
eine Nummer zu groß – zu wichtig – für mich. Dann sind da noch diese merkwürdigen
Berührten, von denen ich nicht weiß, was ich von ihnen halten soll.
Sie sind mir unheimlich.“
Laura nickt. „Mir geht es ähnlich.“
„Dann lass uns verschwinden“, sagt Roger. „Wir könnten ins Lazarett zurückkehren
und dort helfen. Außerdem ist Aaron noch dort.“
Laura umarmt Roger erneut. „Ich bleibe bei dir. Wohin du auch gehst.“
Roger schaut in ihre warmen Augen und küsst sie auf ihre weichen Lippen.
N e u e Z i e l e
Roger und Laura betreten den kleinen Hörsaal des Laboratoriums, in
dem GS alle zusammengerufen hat. Sie setzen sich in die vorletzte Reihe.
Nacheinander erscheinen die anderen und verteilen sich weitläufig in dem
Saal, während GS nachdenklich auf dem Podium auf und ab geht. Big Don
hat sich vor ihm niedergelassen und Roger bemerkt, wie er den Mann aufmerksam
beobachtet.
GS schaut auf und räuspert sich, als der Letzte die Tür schließt. „Ich freue
mich, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid, und möchte mich für eure Anteilnahme
am Grab unserer Freunde bedanken.“
Er macht eine kurze Pause.
„Stanley Payne hatte eine Vision“, fährt er fort. „Die Vision von einer
geeinten Nation. Auch unser Gastgeber, Mister Jones, hatte dieses Ziel vor
Augen, wenn er es auch mit anderen Mitteln umsetzen wollte. Es ist im Nachhinein
müßig, darüber zu streiten, wer richtig oder falsch gehandelt hat, die
Realität hat uns inzwischen eingeholt. Fremde Kräfte haben sich durchgesetzt
und unsere Pläne zerstört.“
Roger hört kaum zu, sondern blickt Laura immer wieder von der Seite
an. Diese Frau fasziniert ihn. Noch nie hatte er solche Gefühle für jemanden.
Er nimmt Lauras Hand, doch sie wehrt ab und deutet nach vorne, wo GS und
Leroy ihre Vorträge halten. Sie hört den beiden gespannt zu. Roger atmet
tief ein und lehnt sich zurück, während die Redner über Aliens, Mountmarker,
Sphären und die Berührten sprechen. Ihm wird deutlich bewusst, dass
er sich richtig entschieden hat.
Am Ende der Versammlung nickt er Laura zu und gemeinsam gehen sie die
wenigen Stufen herab. GS zieht die Augenbrauen hoch, als sie ihn erreichen.
„Kann ich kurz mit dir reden?“, spricht Roger ihn an.
„Sicher. Was gibt es?“
„Wir haben eine Bitte“, druckst Roger herum. „Wir würden gerne zurück.“
„Ihr wollt uns verlassen?“, fragt GS erstaunt. „Hier seid ihr in Sicherheit.
Wo wollt ihr hin?“
„Sei uns nicht böse, aber das ist nicht unsere Welt. All die Aliens, Universen
und Berührten ….“ Roger macht eine ausholende Geste. „Außerdem
haben wir einen Freund zurückgelassen, um den wir uns kümmern müssen.“
„Das tut mir leid, dass ihr uns verlassen wollt“, sagt GS. „Wir können jede
Hilfe gebrauchen. Allerdings werden wir euch nicht zwingen, an dieser wichtigen
Aufgabe mitzuarbeiten.“
So wie GS es formuliert, bekommt Roger ein schlechtes Gewissen. Er
schaut zu Laura, die ihn aufmunternd anlächelt. Dann schüttelt er den Kopf.
„Sorry.“
„Ich kann euch verstehen. Solltet ihr es euch anders überlegen, seid ihr
jederzeit willkommen.“
„Danke“, sagt Laura.
„Es ist euch wahrscheinlich nicht bewusst, aber die Menschen haben
euch viel zu verdanken.“
Roger blickt verlegen auf seine Hände. „Da wäre noch eine Sache …“,
beginnt Roger.
„Wenn ihr etwas braucht – einen Wagen, Verpflegung oder andere Sachen
– sprecht mit Ann. Sie wird euch helfen.“
Roger streckt GS die Hand entgegen. „Vielen Dank. Es war mir eine Ehre,
dich kennenzulernen.“
„Ganz meinerseits“, sagt GS und erwidert die Geste. „Wann wollt ihr los?“
„Gleich morgen früh. Nach Sonnenaufgang.“
„Viel Glück.“
„Das wünschen wir euch auch. Ihr könnt es gebrauchen“, erwidert Laura.
Roger atmet tief durch, als sie den Kontrollpunkt des Laboratoriums passiert
haben. Zuerst wollte er noch anhalten, um sich zu verabschieden, doch
als er sah, dass die Leute mit einem Einsatzwagen vom Squad beschäftigt
waren, ist er weitergefahren.
„Bist du erleichtert?“, fragt Laura, beugt sich zu ihm und schmiegt sich an
seine Schulter, während Roger mit einer Hand das Lenkrad festhält und sich
auf die Straße konzentriert.
„Haben wir die richtige Entscheidung getroffen oder sie im Stich gelassen?“
„Würden sie unsere Hilfe dringend brauchen, hätte GS uns zum Bleiben
überredet. Dass er es nicht versucht hat, zeigt, dass wir entbehrlich sind.“
Roger zögert einen Moment. „Wahrscheinlich hast du recht.“
„Kennst du den Weg zum Lazarett?“
„Ich habe mir die Karten vorher eingeprägt. Wir brauchen etwa drei
Stunden bis dahin.“
Das Tal bei Oak Ridge ist von den verheerenden Stürmen ebenso verschont
geblieben wie das Lazarett, wo sie Aaron zurückgelassen haben.
Trotzdem haben die fünf Jahre nach der Katastrophe der Natur stark zugesetzt.
Die meisten Bäume sind abgestorben. Nur vereinzelt haben Büsche
und kleinere Bäume in geschützten Tälern überlebt. Laura starrt mit traurigem
Blick auf die Landschaft, die an ihrem Fenster vorbeizieht.
Roger wischt mit einer Hand über das Armaturenbrett des Impalas.
„Der Wagen ist zwar alt, läuft aber zuverlässig“, sagt Roger, um Laura auf
andere Gedanken zu bringen. „Die Tankfüllung reicht für fünfhundert Meilen.
Bis Nashville sind es nur hundertsiebzig. Wir haben also genug Reserve.
Danach müssen wir sehen, wo wir Sprit herbekommen.“
„Was ist mit dem Fahrverbot? Gilt das noch?“
„Ich hoffe nicht. Im Lazarett werden wir mehr erfahren.“
„Wir werden dort sicher helfen können“, bemerkt Laura zuversichtlich.
„Du kannst in Nashville beim Police Department fragen, ob sie einen Job für
dich haben. Dann wäre auch der Wagen sicherlich kein Problem.“
„Du glaubst, dass es noch existiert, nach allem, was passiert ist?“
„Warum nicht?“, entgegnet Laura. „Egal, wer jetzt in der Stadt das Sagen
hat, er muss auf jeden Fall für Ordnung sorgen.“
„Nachdem die ganzen Schirme zerstört wurden, wird das Protection
Squad diese Funktion übernehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob die mich mit
offenen Armen empfangen werden.“
„GS hat gesagt, dass mindestens ein Drittel der Bevölkerung durch den
Zusammenbruch der Schirme umgekommen ist. Darunter waren bestimmt
auch viele Soldaten. Sie werden dringend Verstärkung brauchen.“
„Dein Optimismus tut gut“, sagt Roger grinsend, während er den Wagen
auf die Interstate 40 lenkt.
Ohne Zwischenfälle erreichen sie das Lazarett. Christine, die Verwaltungschefin,
ist dankbar für ihr Angebot, aushelfen zu wollen. Sie zeigt ihnen,
wo sie ihre Sachen in den Gemeinschaftsunterkünften deponieren können.
Es ist erst wenige Tage her, seit sie die Zelte des Lazaretts verlassen haben.
„Ich kann Unterstützung im Büro gut gebrauchen“, sagt Christine zu
Laura. „Dein Mann kann bei den Technikern fragen.“
„Oh. Wir sind nicht verheiratet, nur …“, entgegnet Laura und blickt Roger
unsicher an.
„Ich glaube, das weiß sie“, sagt Roger und legt einen Arm um sie. „Ich
möchte nach Aaron sehen, sobald wir unsere Sachen verstaut haben.“
„Geht in Ordnung“, antwortet Christine amüsiert. „Ich erkundige mich,
wo er untergebracht ist.“
Aaron wurde von der Intensivstation in eines der Krankenzelte verlegt.
Roger geht durch den Eingang und erkennt den Freund sofort. Das Zelt mit
der weißen Plane ist geräumiger als das, in dem er anfangs untergebracht
war. Zurzeit sind insgesamt drei der acht Betten belegt. Aaron sitzt auf einem
Stuhl neben dem Bett und hält ein Buch in der Hand. Er schaut zwischen
dem Buch und einem Schachbrett, das auf einem Tisch neben ihm aufgebaut
ist, hin und her. Schließlich bewegt er eine Figur.
„Dir scheint es wieder besser zu gehen!“, ruft ihm Roger entgegen.
Überrascht blickt Aaron auf. „Roger Wheeler, Miss Laura!“ Aaron springt
von seinem Stuhl auf und lässt das Buch auf den Tisch fallen. Zwei Figuren
purzeln zu Boden.
Aaron kommt gebeugt auf sie zu und greift mit einer Hand an seine Seite.
Roger kann ihm ansehen, dass er versucht, nicht das Gesicht zu verziehen.
„Ich bin froh, euch beide wiederzusehen. Wie geht es euch?“
„Hallo Aaron.“ Laura erscheint neben Roger und blickt Aaron lächelnd an.
„Langsam, mein Freund“, sagt Roger und eilt ihm entgegen.
Er bemerkt, wie die beiden anderen Patienten sich etwas zuflüstern und
gemeinsam das Zelt verlassen. Dabei nicken sie ihnen freundlich zu.
„Die Ärzte haben gute Arbeit geleistet und mich wieder zusammengeflickt.
Schachspielen geht, aber den nächsten Aufzugsschacht werde ich noch
nicht schaffen.“
Roger zieht die Augenbrauen hoch. Ironie ist früher nicht gerade Aarons
Stärke gewesen. Der Mann hat sich verändert. Aber wer hat das nach den
letzten Ereignissen nicht?
„Setz dich“, fordert Laura ihn auf. „Du solltest dich schonen.“
„Ich habe seltsame Geschichten gehört, aber niemand konnte mir sagen,
was wirklich geschehen ist.“ Aaron schaut sie fragend an, nachdem er wieder
auf seinem Stuhl Platz genommen hat. „Wie geht es Liam und Tom?“
Roger und Laura schauen sich an.
„Was ist mit ihnen? Ihnen geht es doch gut, oder?“ Aarons Augen werden
groß.
„Soweit wir wissen, geht es beiden gut“, beginnt Roger und setzt sich auf
die Bettkante.
Aaron runzelt die Stirn. „Aber?“
Roger holt tief Luft. „Wo fange ich nur an?“, murmelt er und beginnt stockend
zu berichten, was in den letzten Tagen geschehen ist. Er erzählt von
Raven, Toms Kampf gegen den Scatach in der Kirche, den Armbändern, Ashleys
wahrem Wesen und ihrer Begegnung mit dem Ritter von Istar.
Aarons Kinnlade klappt nach unten, als er von Toms Verletzung erfährt
und wie sie über den Teleport in das Lazarett gelangt sind.
„Die Ärzte sagten, dass sie für Tom nichts mehr tun können. Raven hat ihn
auf Liams Drängen irgendwo hingebracht, wo sie glaubte, dass man ihn heilen
kann. Liam wollte seinen Vater nicht allein lassen und hat sie begleitet.“
„Und wo sind sie jetzt?“
„In einer fremden Welt?“, antwortet Roger unsicher. „Ich weiß nicht, ob
wir sie wiedersehen werden.“
„Mhm“, macht Aaron und schaut ihn nachdenklich an, als wisse er nicht,
ob er alles glauben kann. „Ich werde für sie beten“, sagt Aaron, als er sich
wieder gefasst hat. „Was ist mit Jessica und den Kindern?“
Mehrere Mediziner und Pfleger betreten diskutierend das Zelt.
„Sie sind in Sicherheit“, erwidert Laura und beobachtet unsicher die
Gruppe. „Aber das sollten wir besser nicht hier besprechen.“
„Ich wollte sowieso einen Spaziergang machen“, sagt Aaron und steht
schwerfällig auf. „Ihr könntet mir Gesellschaft leisten.“
„Ich muss eben noch bei der Verwaltung vorbeischauen“, sagt Laura.
„Geht schon vor, ich hole euch bestimmt ein.“
„Sicher“, erwidert Aaron mit einem schiefen Grinsen, während Roger
ihn zu stützen versucht. „Zeig mir, wo ihr damals durch diesen Port angekommen
seid.“
Roger zuckt mit den Schultern und führt den Mann durch das Zelt.
Da befreit sich Aaron aus seinem Arm. „Ich bin nur verletzt, nicht senil.“
Mit normalen Schritten geht er durch den Eingang. Roger schüttelt amüsiert
den Kopf, doch bevor er ihm folgen kann, zieht Laura ihn am Kragen zu sich
heran und küsst ihn leidenschaftlich auf den Mund.
„Bis später, Liebster“, haucht Laura ihm anschließend ins Ohr, geht auf
den Ausgang zu und lässt Roger mit offenem Mund zurück.
Aaron schaut ihr amüsiert nach, bis Roger neben ihm steht.
„Was wolltet ihr mir im Zelt nicht erzählen?“, fragt Aaron draußen.
„Du weißt ja von den Mädchen und ihren Fähigkeiten“, beginnt Roger
und Aaron nickt. „Man nennt sie auch die Berührten. Frag mich nicht,
warum. Auf jeden Fall gehören GS und deine Rabba ebenfalls zu ihnen.“
„Unsere Rabba Paula?“, fragt Aaron erstaunt.
„Wusstest du, dass ihr richtiger Name Pauline ist?“
Aaron schüttelt sprachlos den Kopf.
Sie gehen eine Weile schweigsam weiter. Das Lazarett verschwindet hinter
den kargen Bäumen und Sträuchern.
„Wo sind sie jetzt?“, fragt Aaron.
„Jemand will sie umbringen und jetzt müssen sie sich verstecken.“
„Wer?“
Roger seufzt. „Ich weiß nicht, ob ich das alles richtig hinkriege: Also da
gibt es die Istari, die nicht mit den Berührten zusammenkommen dürfen –
oder so ähnlich. Dann gab es diesen Scatach, der schon in Champaign hinter
den Mädchen her war. Aber Ashley war auch ein Scatach und mit ihnen befreundet.“
Roger blickt Aaron skeptisch an und hat seine Zweifel, ob der ihm
folgen kann. „Raven ist wiederum ein Wächter und hat von irgendwelchen
Auftraggebern und einem Rat gesprochen.“ Er bleibt stehen und sieht Aaron
entschuldigend an. „Wenn du mich fragst, sind das zu viele Aliens auf einmal.
Ich komme da nicht wirklich mit. Nur so viel ist sicher: Die Berührten müssen
sich verstecken und gleichzeitig die anderen warnen.“
„Welche anderen?“
„Paula – ich meine Pauline – hat von insgesamt zweiundvierzig Berührten
gesprochen, die über die ganze Welt verteilt sind.“ Kalter Wind zerrt an
seiner Jacke und Roger schaut nach oben. „Wir sollten zurückkehren, das
wird gleich ungemütlich.“
„Und dieser Teleport?“, will Aaron wissen und bleibt stehen. „Wie muss
ich mir den vorstellen?“
„Ein rechteckiges Energiefeld mit einem unregelmäßigen Rand. Man
konnte diese Landschaft in seinem Inneren erkennen.“
„Und hier seid ihr herausgekommen? Von Champaign aus?“
„Gleich da vorne.“ Roger zeigt auf ein markantes Gebüsch. „Hört sich
wie Science-Fiction an … Ich würde es auch nicht glauben, wenn ich es
nicht erlebt hätte.“
Ungemütlicher Schneeregen setzt ein und sie kehren um. Als Roger und
Aaron das Lazarett erreichen, werden sie bereits von Laura erwartet.
„Es sind neue Unwetter angekündigt“, sagt sie und schaut beunruhigt
nach draußen. „Christine will auch dieses Mal nicht weichen.“
„Sie kennt das Risiko“, meint Aaron, während er seine Jacke abklopft.„Die letzten Stürme hat das Lazarett auch überstanden. Wohin soll sie fliehen?
Die intakten Sphären sind zu weit entfernt.“
„Hoffentlich hast du recht“, meint Laura besorgt.
Engpass
Während Laura und Roger frühstücken, kommt Christine an ihren Tisch.
„Darf ich euch Turteltauben stören?“
Erstaunt blicken sie auf.
„Sicher“, sagt Laura. „Setz dich.“
„Wie ihr wisst, sind wir hier notorisch unterbesetzt und ich kann normalerweise
niemanden abziehen. Aber da ihr jetzt hier seid, könnte Roger
vielleicht etwas für uns erledigen.“
„Alles, was in meiner Macht steht.“
Christine lächelt dankbar. „Uns gehen die Medikamente aus“, beginnt sie
verlegen. „Der Nachschub kam das letzte Mal aus Lexington, aber nach den
jüngsten Ereignissen werden wir nicht darauf hoffen können.“
„Ich kann mich auf die Suche machen“, bietet Roger an. „In Tuscaloosa
und Tulsa sollte noch etwas zu finden sein.“
„Das ist nicht nötig und auch zu gefährlich“, entgegnet Christine. „Wir
haben erfahren, dass jemand Bestände in der Nähe von Atlanta hortet, und
Kontakt aufgenommen.“
„Atlanta ist nicht nur ein Tagesausflug“, überlegt Roger. „Mit dem Wagen
brauche ich mindestens drei Tage und mich darf keiner erwischen.“
„Deshalb sind Tulsa und Tuscaloosa auch tabu. Das Squad würde den
Wagen sofort konfiszieren.“
„Ich brauche Sprit.“ Roger rechnet in Gedanken die Menge aus. „Mehr als
eine Tankfüllung.“
„Du kannst den Jeep nehmen“, schlägt Christine vor. „Das ist ein Diesel,
der verbraucht weniger und du könntest zur Not Heizöl tanken.“
„Wie wäre es mit einigen Reservekanistern?“, schlägt Laura vor. „Ich kenne
jemanden in Nashville, der würde uns sicher helfen.“
„Uns?“ Roger schaut Laura überrascht an.
„Ich lasse dich kein zweites Mal aus den Augen“, sagt sie mit schelmischem
Blick. „Außerdem habe ich in Nashville noch etwas zu erledigen.“
Christine steht schnell auf. „Ich bereite eben die Unterlagen und die Bezahlung
vor.“
„Du denkst an Miller?“, fragt Roger, als Christine weg ist.
„Ist einen Versuch wert.“
Roger nimmt zärtlich ihre Hand. „Informierst du Aaron? Dann gehe ich
rüber zu Christine und komme nachher zu ihm.“
„Okay.“
Wenig später sind sie auf dem Weg nach Nashville. Ihr erstes Ziel ist klar:
das Hotel, in dem Laura früher gearbeitet hat. Doch als sie dort ankommen,
finden sie nur noch die Reste der Grundmauern vor. Millers Bautrupp hat
das ganze Viertel eingeebnet. Die Baustoffe benötigte man in den Korridoren
der Städte für den Wiederaufbau.
„Das sieht nicht gut aus“, meint Roger. „Die sind hier schon lange fertig.“
„Ich zeige dir den Weg zu Millers Lager vor der Stadt. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass er Nashville verlassen hat.“
„Hoffentlich hast du recht“, meint Roger.
Sie finden Miller in seinem Lager, wo er sie freudig begrüßt. Nachdem sie
ihm ihr Vorhaben erklärt hat, schlägt er vor, einen Dreihundertlitertank mit
Zapfanlage auf einem Teil der Ladefläche des Jeeps zu montieren. Roger will
ablehnen, doch Miller besteht darauf und weist seine Mitarbeiter sofort an,
damit zu beginnen.
Während der Umbauten erzählen sie ihm beim Lunch, was sie nach der
Rettung aus dem Hotel erlebt haben. Dabei lassen sie die Passagen mit den
Aliens aus. Das würde zu viele Fragen aufwerfen.
Miller hat inzwischen Anfragen aus den zahlreichen zerstör
ten Städten
erhalten. In Nashville ist nicht mehr viel zu tun.
„Wahrscheinlich gehen wir nach Lexington, das Gebiet vor der Stadt hat
es ziemlich schlimm erwischt und es ist nicht so weit entfernt. Meine Mitarbeiter
haben alle Familie hier in Nashville.“
„Der Wagen ist fertig“, hört Roger die Stimme eines Arbeiters hinter sich.
„Danke, Mike“, sagt Miller und steht auf. „Ich habe noch etwas für Sie,
Miss Laura“, sagt er und geht zu einem Sideboard. Aus einer Schublade holt
er einen Koffer hervor und reicht ihn Laura. „Die Sachen haben wir in den
Ruinen des Hotels gefunden.“
Überrascht nimmt Laura den Koffer entgegen und schaut Miller dabei
fragend an. Sie legt ihn auf den Tisch und öffnet ihn behutsam. Roger sieht,
wie ihr die Tränen in die Augen schießen, während sie das Namensschild
ihres Vaters hervorholt. Ein Ausweis und mehrere Kreditkarten liegen
ebenfalls darin. Außerdem eine Schachtel, eingehüllt in zerknittertes Geschenkpapier.
Sie presst sich eine Hand vor den Mund. Roger legt tröstend
seinen Arm um sie. Auf dem festgebundenen Kärtchen steht: Für meine
kleine Laura. Sie beginnt zu schluchzen und Roger zieht sie ganz zu sich
heran.
Miller nickt ihm zu und verlässt mit seinem Mitarbeiter den Raum.
Es dauert einige Minuten, bis Laura sich gefangen hat. Schniefend geht
sie zu Miller, der draußen bei seinen Männern steht.
„Danke, Mr. Miller“, sagt Laura aufrichtig und fällt dem Mann um den
Hals.
„Ich wusste, dass Sie die Sachen eines Tages abholen würden.“
„Was sind wir Ihnen schuldig?“, meint Roger und deutet auf den Wagen,
als Laura sich auf den Beifahrersitz zurückzieht.
„Vielleicht eine Kleinigkeit für meine Männer.“
Roger überreicht Miller einige Packungen Zigaretten, Konserven und
Münzen, die Christine ihnen als Tauschwaren mitgegeben hat. Er schaut zu
Laura, die den Koffer fest umklammert.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagt Roger zu Miller. „Passen Sie auf sich auf.“
Als sie wieder auf die Straße biegen, fragt Laura: „Können wir noch einmal
an dem Hotel vorbeifahren?“
Roger nickt. Er würde ihr gerne ein paar tröstende Worte sagen, ihm fallen
jedoch keine ein. Schweigend fahren sie zu dem Ort, an dem sich früher
der Eingang des Hotels befand. Sie holt das Namensschild ihres Vaters hervor
und legt es auf einen großen Stein in der Mitte des Platzes. Es tut Roger
in der Seele weh, Laura leiden zu sehen. Gemeinsam nehmen sie Abschied
von ihrem Vater.
„Willst du das Päckchen nicht öffnen?“, fragt Roger, als sie wieder im Wagen
sitzen.
Stumm nickend löst sie das Papier und holt ein dunkelblaues Halstuch
mit barockem, goldfarbenem Muster aus der Schachtel. Sie stößt ein
weinendes Lachen aus.
„Ich liebe diese Halstücher“, sagt sie und küsst den Stoff. „Er wusste das.“
Kurzerhand bindet sie es sich um und schaut in den Rückspiegel.
„Steht dir wirklich gut“, sagt Roger aufmunternd.
Sie haben Nashville lange hinter sich gelassen, als Laura den Koffer
schließlich auf die Rückbank legt.
„Danke“, murmelt sie.
„Nicht jeder bekommt die Gelegenheit, sich zu verabschieden.“
Sie blickt aus dem Fenster. „Die Sonne geht bereits unter. Wenn du müde
wirst, kann ich dich ablösen.“
„Ich würde ungern nachts fahren“, meint Roger. „Das sieht nach einem
Unwetter aus.“ Er deutet auf den Horizont. „Wir müssten die Scheinwerfer
anmachen, das ist meilenweit zu sehen.“
„Ich schlafe auf der Rückbank“, meint sie und blickt ihn schelmisch an.
„Meinst du, da ist Platz für zwei?“
„Auf keinen Fall.“
Roger zieht seine Lippen zu einem Schmollmund zusammen. „Du liebst
mich nicht.“
Laura rollt mit den Augen. „Männer. Immer die gleiche Leier. Wie wäre
es mit etwas mehr Fantasie und Gefühl?“
„Zu anstrengend“, antwortet Roger mit einem breiten Grinsen.
Laura boxt ihm scherzhaft gegen den Oberarm.
Heftiger Regen setzt ein und verschlechtert die Sicht. Plötzlich tritt Roger
auf die Bremse.
„Mist“, schimpft er. „Da vorne mussten wir rechts abbiegen.“
Er fährt zurück und biegt in die Straße. Die verwüstete Gegend ist nach den
Tornados fast menschenleer. Von Zeit zu Zeit begegnen ihnen Familien, die sich
mit ihren letzten Habseligkeiten auf dem Weg in die verbliebenen Städte gemacht
haben. Selten sind die Häuser bewohnt, an denen sie vorbeifahren.
„Machen wir eine Pause“, schlägt Laura vor.
„Gleich. Die Gegend ist mir zu unübersichtlich.“ Zur Verdeutlichung zeigt
er auf die dichten Büsche und Baumstümpfe zu beiden Seiten.
Nach einer Viertelstunde erreichen sie eine Anhöhe mit einer Parkbucht
hinter einer Mauer mit der Aufschrift Ridgevills.
„Das sollte genügen“, sagt Roger und parkt den Wagen neben der Mauer.
Müde reibt er sich die Augen und gähnt.
Laura beugt sich nach hinten und holt ein paar Sandwiches aus ihrer Verpflegungskiste,
während Roger die Innenbeleuchtung anmacht.
„Du hast bestimmt Hunger“, sagt sie und reicht ihm ein Päckchen. Dann
greift sie nach ihrer Jacke und will die Tür öffnen. „Ich bin mal eben für …“
„Doch nicht bei dem Wetter?“, fragt Roger entsetzt.
„Wann denn sonst?“ Sie schaut ihn stirnrunzelnd an. Als er nichts erwidert,
steigt sie aus.
Kalter, nasser Wind weht ins Innere des Wagens, bevor Laura die Tür
wieder zuschmeißt. Besorgt schaut er ihr hinterher, aber nach wenigen Sekunden
verschwimmen ihre Konturen im Dämmerlicht. Soll er ihr folgen?
Quatsch, denkt er. Schließlich ist sie erwachsen. Er würde wie ein Spanner
aussehen. Trotzdem wird er ungeduldig. Warum muss das bei den Frauen
immer so lange dauern?
Plötzlich geht hinter ihm die Wagentür auf und Laura schlüpft hinein.
„Was …“, will Roger protestieren, doch Laura unterbricht ihn sofort.
„Schau nach vorne!“, flüstert sie eindringlich. „Da liegen zwei Jungs auf
der Lauer. Direkt am Ende der Mauer. Es sind noch Kinder, aber bewaffnet.
Sie sind direkt an mir ...